Nachdem ich ursprünglich aus der Werbebranche komme, bin ich immer noch aufmerksam für neue, ansprechende Werbespots und Kampagnen. Und in letzter Zeit fällt mir auf, dass immer mehr große Unternehmen auf das Thema Zeit setzen. Es sind vor allem Dienstleister, die mit schönen Bildern und emotionaler Musik darauf hinweisen, dass sie uns die lästigen Aufgaben des Alltags abnehmen, damit wir mehr Zeit für die wirklich wichtigen Dinge haben. Auch in der Stressbewältigung und Burnoutprävention spielen Zeitdruck und fehlende Zeit zum Erholen eine große Rolle. – Autor: GF
„Wir haben doch keine Zeit!“ ist einer der berühmten Sager, den der mittlerweile Nicht-Mehr-Entertainer Stefan Raab jeden Abend bei seiner Late-Night-Show gebracht hat. Wir haben doch keine Zeit – auch ein Spiegelbild unserer Gesellschaft? Scheinbar, und auch die Werbebranche dürfte herausgefunden haben, dass Zeit zu einem unserer großen Herzenswünsche geworden ist. Nicht umsonst drehen sich mehr und mehr Kampagnen darum. In schönen Bildern wird uns gezeigt, worauf es im Leben wirklich ankommt: Einmal nichts tun, den Wind auf der Haut spüren, gemeinsam lachen, Neues entdecken, den Krebs beim langsamen Krabbeln im Sand beobachten … Auch der umstrittene Edeka-Weihnachtsspot aus dem letzten Jahr drängt darauf, doch endlich wieder mehr Zeit mit der Familie zu verbringen. Aber nutzen wir denn frei gewordene Zeit – sofern wir sie haben – auch richtig?
Warum wir uns mit dem ‚süßen Nichtstun‘ so schwer tun
Nach langer Zeit habe ich heuer auch wieder einmal Vorsätze fürs neue Jahr. Einer davon ist, meinen Nummer 1 Zeitfresser Facebook zu reduzieren. Ja, ich gestehe hiermit: Ich bin eine der Süchtigen, die ständig aufs Handy starrt und die ewig gleichen Seiten aufruft, um zu schauen, ob es etwas Neues gibt. Dass mich das oft davon abbringt, wichtige Dinge fertig zu bringen oder ich mich lieber einen Moment in der U-Bahn entspannen sollte, als meinen Kopf mit Unmengen an unnützem Wissen zu füttern, weiß ich. Und ich will auch etwas dagegen tun, aber das ist ziemlich schwer.
Warum können wir die Zeit, die sich zwischen unseren ToDos auftut – die Minuten im Stau oder beim Anstehen an der Supermarktkasse, die Zugfahrt in die nächste Stadt – nicht mehr aushalten? Warum nutzen wir die wertvollen Stunden, die wir durch unzählige praktische Alltagshelfer und den technologischen Fortschritt gewinnen, nicht mehr dafür eine Moment Ruhe zu geben? Einfach die Menschen zu beobachten. Einmal in unseren Körper hinein zu spüren. Sich über den blauen Himmel draußen zu freuen oder dem nächsten Urlaub entgegen zu träumen? Ständig packen wir alles voll mit neuen Aufgaben, neuen Beschäftigungen oder übertönen (unangenehme?) stille Phasen, in denen einmal nichts los ist, mit Musik oder dem Fernseher. Selbst wenn wir eigentlich gerade in einem Gespräch sind, z.B. wenn uns unsere Kinder von einer neuen Entdeckung erzählen, verleitet uns das Handy immer wieder in Gedanken abzuschweifen und die Mails oder den Wetterbericht für morgen zu checken. Wir sind nicht mehr bei der Sache und noch viel weniger leben wir im Moment. Wie Zombies suchen wir ständig nach neuen Informationen und Sinneseindrücken, getrieben von der ständigen Angst etwas verpassen zu können. Und verpassen dabei uns selbst.
Auch klassische Zeitmanagementseminare vermitteln, wie wir uns besser organisieren und Zeit sparen, um noch mehr Aufgaben am Tag erledigen zu können. Dabei ginge es doch vielmehr darum, Zeit freizuschaufeln, um zwischendurch einmal durchschnaufen zu können. Um in Ruhe Mittag zu essen, einen Kaffee trinken zu gehen mit der Kollegin oder um nicht immer alles unter Druck erledigen zu müssen. Dabei passieren nämlich auch Fehler, geht Leidenschaft und Herzblut verloren. Und das wollen weder wir noch unsere Chefs, Kunden oder Patienten.
Megatrend Achtsamkeit
Auf der anderen Seite gibt es den Megatrend Achtsamkeit, der genau eine Gegenströmung zu all dem darstellt, was ich gerade beschrieben habe. Das Zukunftsinstitut rund um den Trend- und Zukunftsforscher Matthias Horx hat Achtsamkeit erst kürzlich zu dem Thema erklärt, das unsere Gesellschaft in den nächsten Jahren maßgeblich beschäftigen wird. Im aktuellen Zukunftsreport (den ich übrigens sehr ans Herz legen kann) erklären die Autoren: „Achtsamkeit heißt: In einer überfüllten, überreizten, überkomplexen Welt müssen wir lernen, uns auf neue Weise auf uns selbst zu besinnen. Uns vergewissern, um leben zu können.“[1] Uns auf uns selbst besinnen können wir nur, indem wir uns freier machen von äußeren Einflüssen, auf uns einprasselnden Informationen und Zeitvertreiben. Wir müssen die Zeitfenster, die uns gegeben sind nützen für das süße Nichtstun, fürs Luftschlösser bauen. Nur dann finden wir darin auch Erholung und kurze Entspannung und können den ewig anhaltenden Stresspegel etwas senken. Nur dann können wir Energie tanken, damit wir dem Lärm und all den Herausforderungen da draußen wieder gewachsen sind.
Ich hab schon damit begonnen. Manchmal, wenn ich wieder kurz davor bin, mit meinem Finger auf das blaue F zu drücken, halt ich kurz inne, denke daran, was ich stattdessen an wertvoller „Me Time“ gewinnen könnte und stecke mein Handy doch lieber zurück in die Tasche.
[1] Zukunftsinstitut.de (2016): Gibt es einen Megatrend Achtsamkeit?, online unter https://www.zukunftsinstitut.de/artikel/tup-digital/06-innovation-gap/07-future-forecast-2016/gibt-es-einen-megatrend-achtsamkeit/ (21.1.2016)
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